In der Managementliteratur wurde häufig darauf hingewiesen, dass nichtlineares Denken, das heißt, das Denken in Wechselwirkungen, eine Forderung an Entscheidungsträger ist.
Um diese Forderung zu verstehen, soll zunächst erläutert werden, was es mit dem Begriffen „Lineares Denken“ oder „Nichtlineares Denken“ auf sich hat.
Ein linearer Zusammenhang ist dann gegeben, wenn zwei Größen über einen konstanten Faktor miteinander gekoppelt sind. Für derartige Zusammenhänge gibt es viele Beispiele in der Umgebung. Bei Preisen zum Beispiel liegt oftmals ein konstanter Wert für eine bestimmte Menge vor; wenn 10 l Benzin 20 DM kosten, dann kosten 30 l wohl 60 DM.
Nichtlinear wird die Angelegenheit dann, wenn sich aufgrund der Veränderung des Ergebniswertes Rückkopplungen ergeben, die schließlich den Ergebniswert wieder selbst beeinflussen. Um beim Benzinbeispiel zu bleiben, ist eine derartige Rückkopplung schon dann gegeben, wenn bei großen Einkaufsmengen Rabatte erzielt werden und somit der Preis sich mit der Menge verändert, also zum Beispiel ab 500 l nicht mehr 2,00 DM, sondern 1,90 pro Liter ist.
Bei anderen Gegebenheiten treten derartige Nichtlinearitäten deutlich stärker hervor. Ein Personalplaner in einem Unternehmen wird sich gründlich überlegen müssen, ob er zum Beispiel bei einer 50 % Erhöhung des Personals tatsächlich eine 50 % erhöhte Produktion erwarten kann, oder ob die dann beengten Raumverhältnisse oder die zwischen den alten und neuen Mitarbeitern entstandene Konkurrenzsituation nicht die Produktivität deutlich nach unter oder gar nach oben beeinflusst. Bei einer Personalreduzierung, bei einer anderen Gelegenheit, wird er ebenfalls richtig einschätzen müssen, ob zum Beispiel die Halbierung des Personals aus Rationalisierungsgründen zu einer Erhöhung der Produktivität bei den verbliebenen Mitarbeitern sorgt, oder ob diese aus Angst um ihre Existenz dann derartig paralysiert sind, dass sie schließlich deutlich unproduktiver als vor der Entlassungsaktion sind.
Das Hauptproblem besteht darin, dass üblicherweise die Entscheidungsträger durch einen Selektionsprozess gegangen sind, bei dem die ausgeprägt pragmatischen Leute übriggeblieben sind. Derartiger „Pragmatismus“ besteht in der Regel darin, dass einfache geradlinige, d.h. auf linearen Denkmustern beruhende Entscheidungen gefällt werden. Die Ursache dafür, dass dem pragmatischen Denken der Vorzug gegeben wird, ist, daß lineare Denkansätze bei kleinen Schritten sehr gut funktionieren. Wenn der Manager weiß, dass zuletzt eine 5 % Erhöhung des Werbebudgets eine 2 % Umsatzerhöhung gezeigt hatte, dann kann er mit guter Genauigkeit davon ausgehen, dass eine weitere 2,5 % Budgeterhöhung den Umsatz nochmals um 1 % steigern wird. Dies heißt aber noch lange nicht, dass eine 50 % Erhöhung des Werbebudgets gleichermaßen zu einer 20 % Umsatzerhöhung führen muss.
Die Mehrzahl der Entscheidungsträger ist naturgemäß mit kleinen Schritten befasst. Sie sind in großen, bestehenden Organisationen im wesentlichen damit beschäftigt, die bestehende Substanz zu erhalten. Pragmatiker sind vermutlich für die Substanzverwaltung am besten geeignet, da sie mit einfachen zielgerichteten Korrekturen direkt auf Störungen reagieren und diese somit mit geringstem Risiko abwehren.
Für große Änderungen sind diese Eigenschaften jedoch eher ungeeignet. Bei großen Änderungen ist nicht reagieren, sondern agieren angesagt. Hierbei muss proaktiv auch unbekanntes Terrain betreten werden. Um das unvermeidbare Risiko klein zu halten, sind Entscheidungen zu fällen, bei denen die möglicherweise wichtig werdenden indirekten Folgen der Handlungen ins Kalkül gezogen werden müssen.
Der Schluss aus den bisherigen Darlegungen ist, dass linear denkende Pragmatiker, die aufgrund der vereinfachten Natur des linearen Ansatzes zu schnellen klaren Entscheidungen neigen, gut geeignet zu Entscheidungen kleiner Schritte sind. Für große Schritte sind Visionäre gefragt, die Willens und in der Lage sind, die Gesamtheit ihres Verantwortungsbereichs zu erkennen.
Beim linearen und nichtlinearen Denken handelt es sich im wesentlichen um Prognosetechniken, mit denen der Einfluss von Änderungen auf einen bestehenden Zustand abgeschätzt wird. Dies ist Grundlage der dann folgenden Entscheidungen.
Die aktuellen Zustände selbst werden wahrgenommen und qualitativ und quantitativ mit bekannten Kategorien verglichen, bzw. diesen zugeordnet. Die Vergleichsmuster, die hierbei angelegt werden, sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Zum Beispiel bei der Einschätzung anderer Menschen unterscheiden einige sehr genau bezüglich der verschiedenen Charaktermerkmale und sie können somit, obwohl sie genau die verschieden Schwächen des einzelnen sehen, doch seine Stärken auf anderen Gebieten schätzen und ihn somit in seiner Individualität achten. Bei anderen mag diese Unterscheidung hingegen, vereinfacht gesagt, nur Freund oder Feind sein und sie mögen ihr Verhalten entsprechend ausrichten.
Bei Sachthemen gibt es manche, die ihre aufgenommen Informationen in einer Vielzahl von sehr differenzierten Kategorien ablegen und insbesondere zwischen vergleichbaren oder ähnlichen Vorgänge Zusammenhänge herstellen und hieraus ihre Schlüsse ziehen. Nicht wenige andere hingegen schmeißen einen guten Teil der aufgenommen Informationen in die Groß- Kategorie „interessiert mich nicht“.
Es ist an dieser Stelle möglich, nochmals den Unterschied zwischen linearer und nichtlinearer Denkweise herauszustellen. Die beiden vorstehend genannten Typen beschreiben zwei Extreme, wobei nicht gesagt werden kann dass der eine der ungünstigste und der andere der günstigste Fall wäre. Jemand der seine Umwelt in einer unüberschaubaren Vielzahl von Kategorien wahrnimmt und extrem differenziert hat sicherlich einen Nachteil im Wettbewerb gegen jemanden, der zwar ebenfalls in der Lage ist seine Umwelt differenziert wahrzunehmen, aber an Stellen, an denen es angebracht ist, auch vereinfachen kann und sich dann für die für ihn unwichtigen Dinge nicht interessiert. - Lineares Denken hätte aus dem zuvor Gesagten den Schluß ziehen können, dass dann, wenn ein mehr ans Kategorien zur Umweltunterscheidung gut ist, eine Verdoppelung dieser Anzahl auch doppelt so gut sein muss.
Es ist eine in der natürlichen Evolution entwickelte Fähigkeit unseres Gehirns, die aufgenommenen Informationen vorhandenen oder neuen Vergleichsmustern zuzuordnen und somit in einem persönlichen Bild die Umwelt wahrzunehmen. Das dies für das Überleben wichtig ist, leuchtet sofort ein, wenn man den Urmenschen betrachtet, der am Dschungelrand steht und in 200 m Entfernung einen behaarten Vierbeiner aus dem Wald laufen sieht. Der Urmensch kann hier nicht eine Stunde über gutartige und bösartige, nützliche oder schädliche Tiere philosophieren, sondern er muss sich schlagartig entscheiden, ob es sich bei dem Tier um ein für ihn uninteressantes-, oder ein mögliches Beutetier oder ein stärken Jäger, bei dem er selbst zu Beute werden kann, handelt. Er muss das Tier also unverzüglich in eine Kategorie einordnen und sein unmittelbar folgendes Handeln hiervon ableiten. Die einfachste Zuordnung wäre: Überlegenheit, d.h. Flucht, oder Unterlegenheit, d.h. Beute jagen. Eine derartig simple schwarz- weiß- Kategorie würde für diese Situation aber nicht ausreichen, da dem Urmenschen wohl schnell die Puste ausgehen wird, wenn er dann jedes Mal beginnt schwache, schnelle Vierbeiner zu jagen, bei denen er keine Chance hat, diese dann tatsächlich auch als Beute zu erlegen. Die Evolution wird Urmenschen mit derartig einfachen Kategorien im Kopf schnell ausselektieren, da die Menschen, die in der Lage sind die dritte Gruppe der für sie uninteressanten Vierbeiner zu identifizieren, deutliche Überlebensvorteile haben.
Die vorstehenden Beispiele reichen hoffentlich aus, um klarzumachen, dass es differenzierter Muster, d.h. einer ausreichende Anzahl von unterschiedlichen Kategorien bedarf, um die Umwelt in Ihrer Komplexität wahrzunehmen. Eine Überzahl von derartigen Mustern kann aber die Entschlusskraft lähmen. Mit einer zu kleinen Zahl können wohl höchstens lineare Denkansätze verfolgt werden, da die Muster zum Erkennen der zunächst nur schwachen Wechselwirkungen gar nicht vorhanden sind, bzw. nicht beachtet werden.
Bemerkenswert an diesen unterschiedlichen Denkansätzen ist, dass sie kaum etwas mit Begabung und Intelligenz zu tun haben. Es ist im Wesentlichen eine Frage der Denkkultur, ob man sehr differenziert wahrnehmen möchte, ob man mit Andersartigem liberal umgeht und die Vielfältigkeit akzeptiert und achtet, oder ob man nur wenige Dinge für wichtig hält und den Rest missachtet oder gar bekämpft.
Die jeweils gültige und angewandte Denkkultur der Menschen ist aber das Ergebnis der Erziehung, die diese Menschen erhalten haben. Die Erziehung ist ihrerseits Ergebnis der vorherrschenden Werte und der gültigen Philosophie.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde in Osteuropa und anderen Teilen der Welt in einem gewaltigen gesellschaftspolitischen Experiment versucht, die Theorie des Marxismus-Leninismus umzusetzen. In den Schulen wurde hierzu eigens ein eigenes Schulfach mit diesem Namen eingerichtet. Die Basisphilosophie des ML ist der dialektische Materialismus. Dieser formuliert drei „Grundgesetze“ die davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Fortschritt durch den Widerstreit von Gegensätzen getrieben wird. Hierbei lösen die fortschrittlichen Kräfte nach erfolgreicher Bekämpfung das althergebrachte System ab, wobei das Althergebrachte verneint wird (negiert) und durch einen vollständig anderen Gegensatz ersetzt wird. Lenin bezeichnet dieses Modell der gesellschaftlichen Entwicklung als eine Spirale (die aber eigentliche eine Schraubenlinie ist), also eine Art Kreislauf zwischen Systemen, bei denen das Produktivkapital abwechselnd mal privatisiert und mal verstaatlicht wird, wobei die Ablösung jeweils zu einem höheren Niveau der Entwicklung führt. Nach diesem Bild folgt nach einer Sozialismusphase zwangsläufig wieder eine Phase in der die Wirtschaft in privaten Händen ist.
Der Systemwechsel im ehemaligen Sowjetreich und in seinen Satelliten würde demnach keineswegs im Widerspruch zur Theorie stehen. Er wäre lediglich die Folge einer vorübergehenden Phase der Privatisierung beim Wechsel von Industrie- in das Informationszeitalter. Es besteht demnach kein Grund anzunehmen, dass die Lehre des Marxismus-Leninismus sich durch den Zusammenbruch des „realexistierenden Sozialismus“ bei seinen Anhängern diskreditiert hätte. Es scheint heute in Ostdeutschland die verbreitete Ansicht zu geben, dass man jetzt im verbrecherischen, kapitalistischen System (vorübergehend) angekommen sei und sich entsprechend zu verhalten habe. Die neue Wettbewerbswirtschaft wird aus diesem Grunde hauptsächlich als ein Wettbewerb von Abzockern gesehen, bei dem sich viele Ostdeutsche anstrengen, nicht hinten anstehen zu müssen. Bei Geschäftskonkursen wird dann in Ostdeutschland häufig zu hohe Ehrlichkeit oder unfaire Fremdeinwirkung als Ursache vermutet und nicht die tatsächlich oftmals vorliegenden Mängel im Produktivitäts- und Marketingbereich.
Die in der Schule in marxistischer Philosophie eingebläuten Denkmuster haben Spuren hinterlassen. Die vielen dort gehörten Erklärungen zu dem aktuellen Geschehen in der Welt beruhten auf den schwarz-weiß Denk-Kategorien des dialektischen Materialismus. Es ist stets der Kampf der Gegensätze von fortschrittlich zu konservativ, von sozialistisch zu kapitalistisch, von friedlich zu kriegslüstern usw. der im Tagesgeschehen angeblich sichtbar wird.
Die Denkkultur kann sich bei einem derartigen Ansatz und der dazugehörigen Erziehung auf binäres Denken reduzieren. Hierbei werden für die Wahrnehmung von verschiedenen Erscheinungen stets gegensätzliche Kategorien herangezogen. Es bleibt zwischen diesen schwarz-weiß Mustern kaum Platz für Grautöne.
Im Konfliktfall sind die Akteure dann ängstlich bemüht, nicht zu nah an die Grenze vom hellen Gebiet zum dunklen Gebiet kommen. Sie wissen, dass man ab einem gewissen Grad des Fehlverhaltens aus dem Großkollektiv der Gleichen gestoßen wird und dann als rechtloser Unberührbarer gilt und auch entsprechend behandelt wird. Bei kleinerem Fehlverhalten bleibt man hingegen in dieser schwarz-weiß Welt im weißen Gebiet. Faulheit, Drückebergerei, mangelndes Engagement und auch schwache Systemkritik in Form von Maulen hat keine Folgen. Der Lebensstandard ist im weißen Gebiet unabhängig von der persönlichen Leistung.
An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass ich von aktuellen Erfahrungen aus Ostdeutschland berichte und hierbei mit Ausdrücken wie „häufig“, „viele“, „oftmals“ oder es „kann so sein, dass....“ ausdrücke, das die Erfahrungen sich eben nicht auf Alle beziehen, sondern auf einen Teil der Leute. Hierbei will ich auch gar nicht feststellen, ob es sich jeweils um eine Mehrheit oder eine Minderheit handelt. Bezeichnend ist aber, dass ein Teil der Leser nicht willens oder in der Lage ist, diese Unterscheidung zu treffen. Da wird dann stets eine Aussage auf alle Ostdeutschen bezogen und mit dieser Begründung abgelehnt; dass es ja nicht wahr sei, dass alle sich so verhalten. – `habe ich auch nicht behauptet – auch die im vorigen Absatz genannte Faulheit bezog sich lediglich auf diejenigen Leute mit diesem Fehlverhalten; es wurde weder gesagt, noch gemeint, dass alle faul oder Drückeberger wären. Aber es ist eben auch falsch, den Schluss zu ziehen, dass die berichtete Erfahrung dann unwahr sei, wenn sie nicht Alle betrifft, oder man sie nicht aussprechen dürfe, mit Rücksicht auf die Nicht-Betroffenen. Derartige Reaktionen unterstreichen eigentlich die These diese Aufsatzes – dass das binäre Denken in Ostdeutschland besonders verbreitet sei – und auch hier: das Wort „besonders“ sagt aus, dass es natürlich auch woanders vorkommt - aber nach meiner Erfahrung in Westdeutschland nicht annähernd so verbreitet ist.
Das binäre Denken, die Einteilung der Welt in gegensätzliche Kategorien, kann zu extremen Erscheinungen führen.
So kann ein „Wessi im Osten“ erleben, dass er bei der Ankunft zunächst als einer von denen begrüßt wird, die es im Westen zu nichts gebracht haben, da dies offenbar der einzige Grund sein kann, in den Osten zu kommen. Nach einigen Jahren, wenn die persönliche Situation der Kategorie „Versager“ dann offensichtlich widerspricht, findet dieser sich dann plötzlich in der Kategorie „Abzocker“ wieder. Ein fließender Übergang zwischen diesen beiden Extremen findet nicht statt, sondern die Beurteilung wechselt schlagartig von dem einen Extremgebiet in das andere Extremgebiet.
Überhaupt ist das binäre Denken nur sehr schlecht geeignet, um zeitliche Veränderungen abzubilden oder gar zu prognostizieren. Da Wechsel nur von einem Extrem zum anderen als möglich erscheinen, führen kleine Änderungen in der Wahrnehmung und der Erwartung letztlich wieder zum Ausgangszustand zurück. Wirkliche Änderungen sind nach diesem Bild nur als „Umschlag der Qualitäten“ möglich, wie dies bei Marx bezeichnet wurde. – In den sozialistischen Ländern gab es den Bedarf zur Prognosefähigkeit für stetige Änderungen auch nicht. Es wurde dort früh gelernt, dass jegliche Prognosen in den Bereich Propaganda anzusiedeln waren und mit der Realität und der tatsächlichen Entwicklung nichts zu tun hatten.
Heute ist in Ostdeutschland bei vielen Gelegenheiten eine offenbar vorhandene Unfähigkeit festzustellen, über Investitionen zu entscheiden. Verfügbares Geld wird, wie in der früheren Verteilungswirtschaft gelernt, im wesentlichen verteilt. In der Lokalpolitik äußert sich dies dann in Zuwendungen aus Haushaltsmitteln an zahlreiche, den Sozialisten nahestehenden freien Trägern. Aber auch die Konservativen fühlen sich zuerst dazu berufen, ihre Klientel bei Renten- und Eigentumsfragen zu bedienen (was allerdings nicht den lokalen Haushalt betrifft). Investitionen zur baulichen Unterhaltung von Straßen und öffentlichen Gebäuden bleiben sträflich vernachlässigt. So kommt es, dass heute in Ostberlin Kindergärten und Schulen in einem baulich verwahrlosten Zustand sind, der mittlerweile unterhalb des DDR- Niveaus liegen dürfte. – 1994 hatte ich im Gespräch mit einem ostdeutschen Kollegen den Zustand der Straßen und Gebäude in der DDR bemängelt. Er erwiderte hierauf, dass ‚unsere Leute ja nicht das Geld hatten, diese instandzuhalten’. Ich hielt diese Antwort für wahr, wobei ich aber feststellen musste, dass auch im Westen das Geld nicht irgendwo aus dem Boden gesprudelt sei. Bis heute habe ich jedoch die Erfahrung machen müssen, das auch bei vorhandenen Geldmitteln (die natürlich angeblich nie ausreichend sind) der bauliche Zustand im öffentlichen Bereich miserabel bleibt. Da wird dann im Einzelfall eine Kita neu errichtet, mit Luxusausstattung, Duschen und sogar einer Sauna versehen – und die anderen Kitas verfallen zusehends.
Mit dem Bild einer Denkkultur, bei der im Ergebnis nur große Änderungen für möglich gehalten werden, würden kleine Investitionen auch unwirksam sein, da sie nicht wirklich etwas ändern. Demzufolge wird das Geld für kleine Investitionen, und dazu gehören auch Instandhaltungen, lieber unter Freunden verteilt und große Änderungen von höheren Politebenen gefordert.
Im Privatbereich wird die verbreitete Unfähigkeit zum Investitionsdenken häufig bei Unternehmensgründern deutlich. Bei der Planung des Geschäfts konzentriert sich deren Energie häufig auf die Erlangung der Kredite. Das notwendige Streben nach Kunden bleibt oft vernachlässigt. Speziell bei der Ausführung der Investitionen werden die Mittel dann bedenkenlos in Ausstattung, d.h. Büro, Dienstfahrzeug usw., ausgegeben. Das Marketing wird vernachlässigt.
Das Bild einer Gesellschaft mit schwarz-weiß Kategorien ist auch in der Lage Dinge zu erklären, die sonst einfach unerklärlich blieben: in Ostdeutschland gibt es zur Zeit Stimmen aus dem linken Lager, die, offenbar aufgrund der Erfolge der NPD bei der ostdeutschen Jugend, jetzt ihr Nationalgefühl entdeckt haben [1]. Hierbei werden Bekenntnisse laut, bei denen sich einige als „Nationale Internationalisten“ bezeichnen.
Im extrem rechten Lager hingegen werden die Parolen der PDS im hohen Maße übernommen. Man wettert gegen den US-Imperialismus, der BRD-Kriegstreiberei im Kosovo und der Globalisierung. Hierbei wird betont, dass dieser Nationalismus auch sozialistisch sei, demzufolge bezeichnen manche sich als „Linke Rechte“
Wie lassen sich derart paradoxe Aussagen erklären?
Ein „nationaler Internationalist“ ist offenbar jemand, der alle guten Dinge in sich vereinigt. Er grenzt sich „national“ von verwestlichter Beliebigkeit ab und ist internationalistisch im sozialistischen Sinne [2].
Die Kultur des binären Denkens führt zu einem ausgeprägten Beharrungsvermögen[3] der etablierten Wertkategorien. Da eine Änderung nur vom weißen ins schwarze Gebiet denkbar ist, also in das jeweilig andere Extrem, können persönliche Änderungen nur als deutliche Verschlechterung empfunden werden. Somit gibt es für Viele nur Alternativen wie: soziale Verteilung oder blindwütiger Kapitalismus; Unterwürfigkeit oder schroffe Ablehnung; die Firma, in der man arbeitet, ausbeuten, oder von ihr ausgebeutet werden..........
Hiermit kann auch eine Erklärung für andere Erscheinungen, wie sie nach 1990 in Ostdeutschland aufgetreten sind, gegeben in werden. Heute, nach über 10 Jahren, haben sich die alten schwarz-weiß Muster im wesentlichen wieder stabilisiert. Um mit dem Bild eines schachbrettartigen schwarz-weiß Feldes zu sprechen, kann festgestellt werden, dass die Störungen nach der Wende sich nicht darin geäußert hatten, dass die Grenzen der schwarz-weiß Felder etwa gewackelt hätten und sich verschoben hätten. Wenn überhaupt Änderungen im Wertgefüge stattgefunden hatten, dann wurden diese meist in Form von abrupten Umschaltungen der einzelnen Felder von weiß auf schwarz und umgekehrt vollzogen (was den Begriff „binäres Denken“ rechtfertigt – hier finden keine stetigen Änderungen, sondern Umschaltungen zwischen 0 und 1 statt). Änderungen wurden, wenn überhaupt, häufig radikal zum jeweiligen Gegenteil vollzogen. So wurden aus sozialen Kollektivführern knallharte und oft auch unsoziale Geschäftsleute, aus Rednern wurden Schweiger und umgekehrt, die Zustimmung und Ablehnung bei neuen persönlichen Beziehungen und auch zu neuen Themenkreisen wechselte häufig sprunghaft....
Angesichts dieser Denkkultur ist nicht erkennbar, wie zukünftig die stetige Anpassung auf die sich ändernde Umwelt stattfinden soll.
Die Änderungen müssen in der Denkkultur selbst erfolgen. Hierbei ist ein differenziertes Weltbild mit Grautönen anzustreben, bei der auch jeweils die verschiedenen Aspekte einer Eigenschaft gesehen werden müssen. Hiermit wird erkannt, dass eine gute Eigenschaft auch stets negative Aspekte hat – und umgekehrt.
Das Ziel sollte hierbei nicht die in Westdeutschland heute angewandte und weit verbreitete übermäßig tolerante Wertfreiheit sein. Bildhaft gesprochen, wäre dort ein Schachfeld sichtbar, bei dem die Felder grau in grau ineinander geflossen sind und kaum mehr unterscheidbar sind. Somit ist die Entwicklung der Denkkultur in Deutschland eine Aufgabe für Ost und West, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.
Ein tolerantes, wertbasiertes und veränderungsfähiges Weltbild sollte bei uns auf den christlich abendländischen Wurzeln unseres Kulturraumes basieren, um einen jeweils optimalen Kompromiss zwischen freiheitlichen Grundrechten und dem Gemeinwohl bei sich verändernden Umgebungsbedingungen erreichen zu können.
Karl Schmitt 09.10.01
[2] Vielleicht aber auch nur national, wenn es um sein persönliches Teilen mit Ärmeren in anderen Ländern geht und internationalistisch, wenn es um die Frage des Teilens mit Reicheren oder die Aufteilung des Besitzes von anderen Reicheren auf Ärmere geht.
[3] dazu gibt es einige berichtete Erfahrungen bei ‚Annäherung an die Ostdeutschen’, Abschnitt 4.1.7 bei www.schmittk.de/ostd.htm